Über den Umgang mit singenden Drachen
"Verrücktheit ist die Folge des Zusammenbruchs
zwischenmenschlicher Kommunikation."
Milton Erickson
Évelyne Reberg, eine französische Autorin, erzählt in einem ihrer Kinderbücher von einem Drachen, der in ein Dorf einzieht und schon bald die Dorfbewohner mit seinem nicht enden wollenden Gesang so sehr stört, dass sie nachts nicht mehr schlafen können[1]. Verzweifelt versuchen die Dorfbewohner zunächst, den Drachen zum Schweigen zu bringen, in dem sie ihm eine gewaltige Menge Kartoffelbrei kochen, in der Hoffnung, er möge daran ersticken. Als dies nicht gelingt, versuchen sie ihn unter einer Glocke einzuschließen und nachdem auch diese List missglückt, bieten sie ihm ausreichend Wein an - natürlich nicht aus Gastfreundschaft, sondern mit dem Hintergedanken, ihn auf diese Weise einschläfern zu können. Aber auch dieser Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, ist vergeblich. Erst als ein kleines Mädchen die einfache Idee hat, den Drachen zu bitten, mit dem Singen aufzuhören, weil sonst niemand im Dorf schlafen kann, hat es mit dem Gesang ein Ende und die erstaunten Dorfbewohner finden wieder ihre Ruhe.
Diese Geschichte ist für mich ein schönes Beispiel für das, was Marshall B. Rosenberg Gewaltfreie Kommunikation[2] genannt hat. Er spricht von Gewaltfreier Kommunikation, weil sie dazu dienen soll, das gegenseitige Einfühlungsvermögen in Konfliktsituationen zu erhöhen, um so eine Lösung zu finden, die den Bedürfnissen aller Konfliktparteien gerecht wird, bevor die Lösung mit dem "Knüppel" gewählt wird.
Die vier Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation sind folgende:
- Teile dem anderen mit, was du beobachtet hast: Wenn Du durch das Verhalten eines anderen irritiert bist, dann beschreibe zunächst - nicht vorwurfsvoll und nicht wertend (!) - das Verhalten, das dich irritiert und die konkrete Situation, in der es aufgetreten ist. "Hallo Drache, die letzten zwei Nächte hast du so laut gesungen, dass es im ganzen Dorf zu hören war und wir alle nicht schlafen konnten."
- Teile dem anderen mit, was du empfunden hast: Beschreibe als Nächstes, wie es Dir persönlich damit geht bzw. was das Verhalten und die Konsequenzen davon in Dir an Gefühlen auslöst. "Wenn ich nachts wegen Deinem Gesang nicht schlafen kann, werde ich gereizt und fühle mich am nächsten Tag erschöpft und übermüdet. Ich merke, dass ich richtig ärgerlich auf dich werde."
- Teile dem anderen mit, was dein Bedürfnis ist: Informiere dann den anderen über dein Bedürfnis, das durch sein Verhalten nicht genügend berücksichtigt wird bzw. unerfüllt bleibt. "Ich muss Nachts ausreichend lange schlafen können, damit ich mich am nächsten Tag frisch und ausgeruht fühle und guter Laune bin."
- Teile dem anderen mit, was du dir wünschst: Lass den anderen wissen, was Du dir aufgrund Deiner Bedürfnisse vom anderen wünschst. "Ich wünsche mir, dass du nachts nicht mehr singst, damit ich mal wieder schlafen kann".
In einer Konfliktsituation wird natürlich selten so sortiert gesprochen. Statt dessen wird all diese Information zu einem einzigen allgemeinen Vorwurf verdichtet. ("Immer musst du singen!").
Die konkrete Situation wird durch Verallgemeinerungen vernebelt ("immer, nie"). Das eigene Empfinden drückt sich eher indirekt in einem vorwurfsvollen Unterton, dem bösen Blick, der gereizten Stimmlage und der abwertenden Wortwahl aus ("Ich kann deinen Gesang nicht mehr ertragen! Dieses Gekrächze jede Nacht. Das hält ja kein Mensch aus!"). Die Enttäuschung, die Verletzung, das Bedürfnis darunter wird jedoch häufig verschwiegen ("ich fühle mich wie gerädert, kraftlos, erschöpft, ...").
Anstatt eines klar geäußerten Wunsches ("Singe doch bitte nicht mehr nachts, damit wir wieder zu unserem Schlaf kommen") wird geschimpft, gedroht, gejammert, mit Dritten über den Drachen gelästert, ohne ihn selbst zu informieren, und diagnostiziert: "der hat nie gelernt, auf andere Rücksicht zu nehmen. Was für ein Egoist!" oder "Der macht das bestimmt, um uns zu ärgern!"
Jetzt mögen Sie vielleicht sagen: Na ja, das mit der gewaltfreien Kommunikation mag ja im Märchen funktionieren, aber ich kenne Drachen, die singen dann trotzdem weiter.
Das kann durchaus sein, - manchmal liegt es daran, dass zwar in den Worten scheinbar die vier Prinzipien befolgt wurden, der Wunsch dem anderen jedoch so vorwurfsvoll entgegengeschleudert wird, dass er eine ähnlich einladende Wirkung hat wie ein kunstvoll geschwungener Knüppel.
Unsere wahre Haltung, mit der wir einen Wunsch ausgesprochen haben, zeigt sich häufig in unserer eigenen Reaktion darauf, wenn unserem dringlichen Wunsch nicht Folge geleistet wird. Reagieren wir beleidigt, ärgerlich oder eingeschnappt, dann war es kein Wunsch, sondern eine Forderung oder gar ein Befehl, den wir nur als "Wunsch" verkleidet haben. Es gibt noch andere Varianten, mit denen man die an sich kraftvolle Wirkung dieser Prinzipien zunichte machen kann wie zum Beispiel Lamentieren, um endlich das Mitleid des anderen zu wecken ("siehst du denn nicht, wie ich leide, wenn du immer so singst!"), anstatt aufrecht und aufrichtig mit der Klärung zu beginnen ("Ich will schlafen, Du willst es lebendig, was können wir tun, damit jeder zu dem kommt, was er braucht?"). Damit solch eine Klärung Früchte tragen kann, braucht es auch einen geraden Rücken, der nur dann wirklich gerade ist, wenn ich selbstbewusst mich UND dich respektiere, auch wenn dein Verhalten gerade Anlass für Irritation ist.
Und trotzdem: die Befolgung der vier Prinzipien in der Kommunikation (Mitteilen von Beobachtung, Empfindung, Bedürfnis und Wunsch) ist nur der halbe Weg zu einem neuen Miteinander. Die zweite Hälfte des Weges bedeutet wertschätzendes Zuhören und Erkundigen - sofern man dazu noch in der Lage ist. Denn je größer der Ärger ist, auf dem man bereits sitzt, desto vergifteter ist man innerlich, und wenn man dann den Mund aufmacht, spuckt man notgedrungen erst mal "Gift und Galle". Deshalb sollte man so früh wie möglich Irritationen ansprechen. Das Mädchen könnte - nachdem es deutlich die Situation, sein Empfinden, sein Bedürfnis und seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht hat, zum Beispiel den Drachen fragen: "Warum willst Du denn die ganze Nacht singen?" Wir können natürlich nicht darauf zählen, dass die Drachen dieser Welt die Gewaltfreie Kommunikation von Rosenberg schon kennen und schätzen gelernt haben. Deshalb würde er vielleicht erwidern: "Ach, ihr langweiligen Dorfbewohner, kaum bringt man etwas Leben in euer verschlafenes Dorf, regt ihr euch schon auf!". Bei solch einer Reaktion würde es vermutlich auch wenig bringen, ihn darüber zu unterrichten mit der Bitte, sein Anliegen nochmals gewaltfrei zu formulieren. Aber wir können durch wertschätzendes Nachfragen und Zuhören beim Sortieren und Konkretisieren helfen. "Du hättest es also gerne nachts (Situation) lebendiger (Bedürfnis) und würdest deshalb gerne singen (Verhalten)?" - "Genau, und noch schöner wäre, du würdest auch mitsingen!"
Wichtig ist, dass die empfohlenen Prinzipien nicht als Trick oder Werkzeug angewendet werden, sondern mit wirklichem Interesses an den zugrunde liegenden Bedürfnissen des anderen, auch wenn dessen Art, wie er derzeit seinen Bedürfnissen nachgeht, für mich irritierend ist. Die Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation bieten keinerlei Garantie, dass sich das Verhalten des anderen ändert. Sie erhöhen aber nach meiner Erfahrung die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine gemeinsame Lösung finden - und zwar dann, wenn es uns gelingt, respektvoll über die dahinterliegenden Bedürfnisse eines jeden zu sprechen, anstatt einander unsere Verhaltensweisen vorzuwerfen und den anderen mit einer Diagnose abzustempeln. Der Ansatz von Marshal Rosenberg ist für mich eine viel versprechende Antwort auf die Frage: "Wie kann gesiegt werden, ohne zu kämpfen?" - eine Frage, der sich schon Lao Tse gewidmet hat, und die ich schon in meinem letzten Essay [3] aus Sicht des Taoismus näher beleuchtet habe.
Ob der Drache nach seinem Gespräch mit dem Mädchen aus dem Dorf gejagt wurde, oder einmal im Monat nachts singen darf, oder gar den Kindern nachmittags Gesangsunterricht geben darf - ich weiß es nicht. Ich weiss allerdings, dass die Drachen nicht immer die anderen sind. Jeder von uns kann mal in die Rolle des Drachen geraten - meist ohne es zu merken, denn die Drachen erfahren es nicht selten als Letzte.
Hierzu fällt mir folgendes Erlebnis aus meiner Jugend ein. Damals war ich mit zwei Freunden per Anhalter auf dem Weg nach Südfrankreich unterwegs. Nachts schliefen wir draußen, Autobahnraststätten und Campingplätze nutzten wir, um uns zu waschen und mal etwas Warmes zu essen. Eines Abends beschlossen wir, uns nach einem regnerischen Tag mit wenig Mitfahrgelegenheiten zum Trost ein richtig gutes Essen in einem Restaurant zu gönnen. Als wir in das noch relativ leere Restaurant eintraten - abgetragene Jeans, (damals noch) lange Haare - und noch etwas unschlüssig herumstanden, um einen geeigneten Tisch auszusuchen, kam uns ein älterer Herr entgegen, der sich bald als Besitzer des Restaurants erwies.
Die Art, wie er auf uns zuschritt, ließ schon erahnen, dass es ihm nicht darum ging, eine Bestellung aufzunehmen. "Tut mir leid", sprach er uns freundlich an, "ich sehe, ihr seid hungrig und würdet gerne in meinem Restaurant zu Abend essen. Ich möchte euch aber bitten, euch ein anderes Restaurant zu suchen, und zwar nicht, weil ich etwas gegen euch habe. Ich selbst bin in meiner Jugend ähnlich durch die Welt gezogen wie ihr. Aber meine Gäste, von denen viele zu meinen Stammkunden zählen, legen Wert auf ein gewisses Ambiente, und es gibt sicherlich einige, die an Eurem Äußeren Anstoß nehmen würden. Ihr kommt sicherlich nur einmal hier her, ich aber bin angewiesen auf meine Stammkunden und möchte sie deshalb nicht verlieren. Deshalb wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr wo anders essen geht." So ungefähr sprach er uns an und ich muss sagen: In jener Zeit damals konnte ich recht schnell allergisch auf alles reagieren, was in meinen Augen damals Ausdruck engstirnigen "Spießertums" war. Und was wir jetzt erlebten, hätte mit Leichtigkeit eine allergische Reaktion bei mir auslösen können, denn da war es doch wieder: dieses engstirnige Reduzieren des Menschen auf seine Kleidung und sein Äußeres. Nur deshalb sollten wir hier nicht essen dürfen? Und doch. Die Art, wie er mit uns sprach, signalisierte Wertschätzung und Verständnis. Und gleichzeitig klärte er uns über seine Bedürfnisse und Beweggründe auf. Das wirkte.
Die Tatsache, dass ich mich nach über fünfundzwanzig Jahren noch an diese Begebenheit erinnere, zeugt davon, wie sehr mich sein Umgang mit "singenden Drachen", beeindruckt hat. Obwohl wir zunächst in jenem Moment, in dem er auf uns zugekommen war, in Habachtstellung gegangen waren, hatten wir aufgrund seiner Art, mit uns gewaltfrei zu kommunizieren, ein Einsehen und verließen zwar enttäuscht aber verständnisvoll das Lokal. Im Grunde hat mir dieser Lokalbesitzer viel mehr gegeben, als wenn er uns ein wohlschmeckendes Abendessen serviert hätte - dieses hätte ich schon längst vergessen.
Solltest Du Dich zur Zeit in der Rolle der Dorfbewohner befinden, wünsche ich Dir stille Nächte, nicht nur an Weihnachten - und wenn Du Dich gerade unwissentlich in der Rolle des Drachen befindest, hoffe ich, dass die Betroffenen den Mut haben, es Dich gewaltfrei wissen zu lassen - und vor allem, dass Du nicht verjagt wirst und weiterhin leben und singen darfst.
Ingo Heyn
Dezember 2007
Weblinks
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Text AUSBILDUNG
Text KUNDE
Évelyne Reberg, eine französische Autorin, erzählt in einem ihrer Kinderbücher von einem Drachen, der in ein Dorf einzieht und schon bald die Dorfbewohner mit seinem nicht enden wollenden Gesang so sehr stört, dass sie nachts nicht mehr schlafen können[4]. Verzweifelt versuchen die Dorfbewohner zunächst, den Drachen zum Schweigen zu bringen, in dem sie ihm eine gewaltige Menge Kartoffelbrei kochen, in der Hoffnung, er möge daran ersticken. Als dies nicht gelingt, versuchen sie ihn unter einer Glocke einzuschließen und nachdem auch diese List missglückt, bieten sie ihm ausreichend Wein an - natürlich nicht aus Gastfreundschaft, sondern mit dem Hintergedanken, ihn auf diese Weise einschläfern zu können. Aber auch dieser Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, ist vergeblich. Erst als ein kleines Mädchen die einfache Idee hat, den Drachen zu bitten, mit dem Singen aufzuhören, weil sonst niemand im Dorf schlafen kann, hat es mit dem Gesang ein Ende und die erstaunten Dorfbewohner finden wieder ihre Ruhe.
Diese Geschichte ist für mich ein schönes Beispiel für das, was Marshall B. Rosenberg Gewaltfreie Kommunikation[5] genannt hat. Er spricht von Gewaltfreier Kommunikation, weil sie dazu dienen soll, das gegenseitige Einfühlungsvermögen in Konfliktsituationen zu erhöhen, um so eine Lösung zu finden, die den Bedürfnissen aller Konfliktparteien gerecht wird, bevor die Lösung mit dem "Knüppel" gewählt wird.
Die vier Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation sind folgende:
- Teile dem anderen mit, was du beobachtet hast: Wenn Du durch das Verhalten eines anderen irritiert bist, dann beschreibe zunächst - nicht vorwurfsvoll und nicht wertend (!) - das Verhalten, das dich irritiert und die konkrete Situation, in der es aufgetreten ist. "Hallo Drache, die letzten zwei Nächte hast du so laut gesungen, dass es im ganzen Dorf zu hören war und wir alle nicht schlafen konnten."
- Teile dem anderen mit, was du empfunden hast: Beschreibe als Nächstes, wie es Dir persönlich damit geht bzw. was das Verhalten und die Konsequenzen davon in Dir an Gefühlen auslöst. "Wenn ich nachts wegen Deinem Gesang nicht schlafen kann, werde ich gereizt und fühle mich am nächsten Tag erschöpft und übermüdet. Ich merke, dass ich richtig ärgerlich auf dich werde."
- Teile dem anderen mit, was dein Bedürfnis ist: Informiere dann den anderen über dein Bedürfnis, das durch sein Verhalten nicht genügend berücksichtigt wird bzw. unerfüllt bleibt. "Ich muss Nachts ausreichend lange schlafen können, damit ich mich am nächsten Tag frisch und ausgeruht fühle und guter Laune bin."
- Teile dem anderen mit, was du dir wünschst: Lass den anderen wissen, was Du dir aufgrund Deiner Bedürfnisse vom anderen wünschst. "Ich wünsche mir, dass du nachts nicht mehr singst, damit ich mal wieder schlafen kann".
In einer Konfliktsituation wird natürlich selten so sortiert gesprochen. Statt dessen wird all diese Information zu einem einzigen allgemeinen Vorwurf verdichtet. ("Immer musst du singen!").
Die konkrete Situation wird durch Verallgemeinerungen vernebelt ("immer, nie"). Das eigene Empfinden drückt sich eher indirekt in einem vorwurfsvollen Unterton, dem bösen Blick, der gereizten Stimmlage und der abwertenden Wortwahl aus ("Ich kann deinen Gesang nicht mehr ertragen! Dieses Gekrächze jede Nacht. Das hält ja kein Mensch aus!"). Die Enttäuschung, die Verletzung, das Bedürfnis darunter wird jedoch häufig verschwiegen ("ich fühle mich wie gerädert, kraftlos, erschöpft, ...").
Anstatt eines klar geäußerten Wunsches ("Singe doch bitte nicht mehr nachts, damit wir wieder zu unserem Schlaf kommen") wird geschimpft, gedroht, gejammert, mit Dritten über den Drachen gelästert, ohne ihn selbst zu informieren, und diagnostiziert: "der hat nie gelernt, auf andere Rücksicht zu nehmen. Was für ein Egoist!" oder "Der macht das bestimmt, um uns zu ärgern!"
Jetzt mögen Sie vielleicht sagen: Na ja, das mit der gewaltfreien Kommunikation mag ja im Märchen funktionieren, aber ich kenne Drachen, die singen dann trotzdem weiter.
Das kann durchaus sein, - manchmal liegt es daran, dass zwar in den Worten scheinbar die vier Prinzipien befolgt wurden, der Wunsch dem anderen jedoch so vorwurfsvoll entgegengeschleudert wird, dass er eine ähnlich einladende Wirkung hat wie ein kunstvoll geschwungener Knüppel.
Unsere wahre Haltung, mit der wir einen Wunsch ausgesprochen haben, zeigt sich häufig in unserer eigenen Reaktion darauf, wenn unserem dringlichen Wunsch nicht Folge geleistet wird. Reagieren wir beleidigt, ärgerlich oder eingeschnappt, dann war es kein Wunsch, sondern eine Forderung oder gar ein Befehl, den wir nur als "Wunsch" verkleidet haben. Es gibt noch andere Varianten, mit denen man die an sich kraftvolle Wirkung dieser Prinzipien zunichte machen kann wie zum Beispiel Lamentieren, um endlich das Mitleid des anderen zu wecken ("siehst du denn nicht, wie ich leide, wenn du immer so singst!"), anstatt aufrecht und aufrichtig mit der Klärung zu beginnen ("Ich will schlafen, Du willst es lebendig, was können wir tun, damit jeder zu dem kommt, was er braucht?"). Damit solch eine Klärung Früchte tragen kann, braucht es auch einen geraden Rücken, der nur dann wirklich gerade ist, wenn ich selbstbewusst mich UND dich respektiere, auch wenn dein Verhalten gerade Anlass für Irritation ist.
Und trotzdem: die Befolgung der vier Prinzipien in der Kommunikation (Mitteilen von Beobachtung, Empfindung, Bedürfnis und Wunsch) ist nur der halbe Weg zu einem neuen Miteinander. Die zweite Hälfte des Weges bedeutet wertschätzendes Zuhören und Erkundigen - sofern man dazu noch in der Lage ist. Denn je größer der Ärger ist, auf dem man bereits sitzt, desto vergifteter ist man innerlich, und wenn man dann den Mund aufmacht, spuckt man notgedrungen erst mal "Gift und Galle". Deshalb sollte man so früh wie möglich Irritationen ansprechen. Das Mädchen könnte - nachdem es deutlich die Situation, sein Empfinden, sein Bedürfnis und seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht hat, zum Beispiel den Drachen fragen: "Warum willst Du denn die ganze Nacht singen?" Wir können natürlich nicht darauf zählen, dass die Drachen dieser Welt die Gewaltfreie Kommunikation von Rosenberg schon kennen und schätzen gelernt haben. Deshalb würde er vielleicht erwidern: "Ach, ihr langweiligen Dorfbewohner, kaum bringt man etwas Leben in euer verschlafenes Dorf, regt ihr euch schon auf!". Bei solch einer Reaktion würde es vermutlich auch wenig bringen, ihn darüber zu unterrichten mit der Bitte, sein Anliegen nochmals gewaltfrei zu formulieren. Aber wir können durch wertschätzendes Nachfragen und Zuhören beim Sortieren und Konkretisieren helfen. "Du hättest es also gerne nachts (Situation) lebendiger (Bedürfnis) und würdest deshalb gerne singen (Verhalten)?" - "Genau, und noch schöner wäre, du würdest auch mitsingen!"
Wichtig ist, dass die empfohlenen Prinzipien nicht als Trick oder Werkzeug angewendet werden, sondern mit wirklichem Interesses an den zugrunde liegenden Bedürfnissen des anderen, auch wenn dessen Art, wie er derzeit seinen Bedürfnissen nachgeht, für mich irritierend ist. Die Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation bieten keinerlei Garantie, dass sich das Verhalten des anderen ändert. Sie erhöhen aber nach meiner Erfahrung die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine gemeinsame Lösung finden - und zwar dann, wenn es uns gelingt, respektvoll über die dahinterliegenden Bedürfnisse eines jeden zu sprechen, anstatt einander unsere Verhaltensweisen vorzuwerfen und den anderen mit einer Diagnose abzustempeln. Der Ansatz von Marshal Rosenberg ist für mich eine viel versprechende Antwort auf die Frage: "Wie kann gesiegt werden, ohne zu kämpfen?" - eine Frage, der sich schon Lao Tse gewidmet hat, und die ich schon in meinem letzten Essay [6] aus Sicht des Taoismus näher beleuchtet habe.
Ob der Drache nach seinem Gespräch mit dem Mädchen aus dem Dorf gejagt wurde, oder einmal im Monat nachts singen darf, oder gar den Kindern nachmittags Gesangsunterricht geben darf - ich weiß es nicht. Ich weiss allerdings, dass die Drachen nicht immer die anderen sind. Jeder von uns kann mal in die Rolle des Drachen geraten - meist ohne es zu merken, denn die Drachen erfahren es nicht selten als Letzte.
Hierzu fällt mir folgendes Erlebnis aus meiner Jugend ein. Damals war ich mit zwei Freunden per Anhalter auf dem Weg nach Südfrankreich unterwegs. Nachts schliefen wir draußen, Autobahnraststätten und Campingplätze nutzten wir, um uns zu waschen und mal etwas Warmes zu essen. Eines Abends beschlossen wir, uns nach einem regnerischen Tag mit wenig Mitfahrgelegenheiten zum Trost ein richtig gutes Essen in einem Restaurant zu gönnen. Als wir in das noch relativ leere Restaurant eintraten - abgetragene Jeans, (damals noch) lange Haare - und noch etwas unschlüssig herumstanden, um einen geeigneten Tisch auszusuchen, kam uns ein älterer Herr entgegen, der sich bald als Besitzer des Restaurants erwies.
Die Art, wie er auf uns zuschritt, ließ schon erahnen, dass es ihm nicht darum ging, eine Bestellung aufzunehmen. "Tut mir leid", sprach er uns freundlich an, "ich sehe, ihr seid hungrig und würdet gerne in meinem Restaurant zu Abend essen. Ich möchte euch aber bitten, euch ein anderes Restaurant zu suchen, und zwar nicht, weil ich etwas gegen euch habe. Ich selbst bin in meiner Jugend ähnlich durch die Welt gezogen wie ihr. Aber meine Gäste, von denen viele zu meinen Stammkunden zählen, legen Wert auf ein gewisses Ambiente, und es gibt sicherlich einige, die an Eurem Äußeren Anstoß nehmen würden. Ihr kommt sicherlich nur einmal hier her, ich aber bin angewiesen auf meine Stammkunden und möchte sie deshalb nicht verlieren. Deshalb wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr wo anders essen geht." So ungefähr sprach er uns an und ich muss sagen: In jener Zeit damals konnte ich recht schnell allergisch auf alles reagieren, was in meinen Augen damals Ausdruck engstirnigen "Spießertums" war. Und was wir jetzt erlebten, hätte mit Leichtigkeit eine allergische Reaktion bei mir auslösen können, denn da war es doch wieder: dieses engstirnige Reduzieren des Menschen auf seine Kleidung und sein Äußeres. Nur deshalb sollten wir hier nicht essen dürfen? Und doch. Die Art, wie er mit uns sprach, signalisierte Wertschätzung und Verständnis. Und gleichzeitig klärte er uns über seine Bedürfnisse und Beweggründe auf. Das wirkte.
Die Tatsache, dass ich mich nach über fünfundzwanzig Jahren noch an diese Begebenheit erinnere, zeugt davon, wie sehr mich sein Umgang mit "singenden Drachen", beeindruckt hat. Obwohl wir zunächst in jenem Moment, in dem er auf uns zugekommen war, in Habachtstellung gegangen waren, hatten wir aufgrund seiner Art, mit uns gewaltfrei zu kommunizieren, ein Einsehen und verließen zwar enttäuscht aber verständnisvoll das Lokal. Im Grunde hat mir dieser Lokalbesitzer viel mehr gegeben, als wenn er uns ein wohlschmeckendes Abendessen serviert hätte - dieses hätte ich schon längst vergessen.
Sollten Sie sich zur Zeit in der Rolle der Dorfbewohner befinden, wünsche ich Ihnen stille Nächte, nicht nur an Weihnachten - und wenn Sie sich gerade unwissentlich in der Rolle des Drachen befinden, hoffe ich, dass die Betroffenen den Mut haben, es Sie gewaltfrei wissen zu lassen - und vor allem, dass Sie nicht verjagt werden und weiterhin leben und singen dürfen.
Ingo Heyn
Dezember 2007
Weblinks
- Was ist eigentlich Klärungshilfe?
- Moderation von Konfliktklärungen
- "Die Quadratur der Werte" - ein Essay über den grossen Nutzen des Wertequadrats für den Umgang mit Konflikten
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Fussnoten
- ↑ Évelyne Reberg, Bayard Press, Paris, 1990. "Le dragon chanteur? Leider ist die deutsche Auflage mit dem Titel "Der singende Drache" vergriffen.
- ↑ Gewaltfreie Kommunikation, Marshal B. Rosenberg, erschienen im Junfermann-Verlag, 2004, ISBN 978-3-87387-454-1. Rosenbergs Ansatz wird inzwischen weltweit gelehrt und angewendet. Über sein gemeinnütziges Institut "The Center for Nonviolent Communication" kann man sich unter www.cnvc.org (englischsprachig) informieren. Auf Deutsch liefert auch die Internet-Enzyklopädie "Wikipedia" gute Hintergrundsinformation: http://de.wikipedia.org/wiki/Marshall_B._Rosenberg .
- ↑ Siehe hierzu meinen letzten Essay Nr. 4: Der Tanz mit dem Leben im Schatten unserer Visionen
- ↑ Évelyne Reberg, Bayard Press, Paris, 1990. "Le dragon chanteur? Leider ist die deutsche Auflage mit dem Titel "Der singende Drache" vergriffen.
- ↑ Gewaltfreie Kommunikation, Marshal B. Rosenberg, erschienen im Junfermann-Verlag, 2004, ISBN 978-3-87387-454-1. Rosenbergs Ansatz wird inzwischen weltweit gelehrt und angewendet. Über sein gemeinnütziges Institut "The Center for Nonviolent Communication" kann man sich unter www.cnvc.org (englischsprachig) informieren. Auf Deutsch liefert auch die Internet-Enzyklopädie "Wikipedia" gute Hintergrundsinformation: http://de.wikipedia.org/wiki/Marshall_B._Rosenberg .
- ↑ Siehe hierzu meinen letzten Essay Nr. 4: Der Tanz mit dem Leben im Schatten unserer Visionen